von Charlotte » Sa. 05.12.2015, 17:28
Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es ist, so eine charakterliche Veränderung zu erleben, weil ich es bisher zum Glück noch nicht erleben musste. Es tut mir leid, dass es den Bruder, den du so sehr liebst und ja eigentlich auch dringend brauchst, nicht mehr gibt.
Sich mit so einer Veränderung abzufinden, ist wohl nahezu unmöglich. Aber was Anfang sein könnte, wäre, es zu akzeptieren, wie es ist. Nicht nur, dass dein Bruder nicht mehr so ist wie früher, sondern auch dass du dich verändert hast und das ganze Leben nicht mehr so ist, wie es einmal war. Und in Folge dessen auch zu akzeptieren, dass du um all das trauerst, was du verloren hast. Denn trauern ist ein Heilungsprozess und wenn du deiner Seele erlaubst, die riesige Wunde zu heilen, die der Verlust in dir gerissen hat, kann sich darauf Neues aufbauen. Es wird nicht so sein wie früher, das wird leider nie wieder zurückkommen. Aber das heißt nicht, dass das Neue schlecht ist.
Ich glaube, dein Bruder und du, ihr habt euch auch heute viel zu geben. Ihr habt wertvolle Seiten und Eigenschaften, ihr habt einen ganz anderen Blick auf die Welt, der ja nicht nur schlecht sein muss. Und wenn du das Heute nicht mehr unmittelbar mit dem Vergangenen vergleichst und das Vergangene nicht mehr als Maßstab benutzt, kann sich auch das Heute besser anfühlen.
Und was ist schon ein "normales Leben"? "Normale" ist nur ein Durchschnitt, der von Menschen erschaffen und berechnet wurde, weil der Mensch per se das Bedürfnis hat, nicht zu sehr aus der Art zu schlagen. Aber interessant wird es doch erst bei den Dingen, die nicht normal sind. Und auch schlechtem liegt etwas Gutes inne. Ich bin manchmal sehr dankbar dafür, einen Hang zur Depression zu haben, weil die Depression mich auch verständnisvoller und einfühlsamer gemacht hat anderen gegenüber. Weil sie mir ein Stoppschild gesetzt hat, mit dem ich mich beschäftigen musste und mich so dazu gezwungen hat, mit dem Verdrängen und Existieren aufzuhören. Außerdem hat sie Menschen in mein Leben gebracht, die mir sehr wichtig geworden sind und nicht zuletzt ja auch dieses Forum.
Vielleicht schaust du mal, was deine Erkrankung und die Erkrankung deines Bruders euch Gutes gebracht hat. Da gibt es bestimmt was. Und wenn du dir dann ein "normales" Leben ohne diese guten Dinge vorstellst, ist es vielleicht etwas weniger schmerzhaft, es nicht zu haben.
Das sind nur Gedanken von mir, ob und wann und wie du etwas davon umsetzt, ist deine Entscheidung. Ich erwarte nicht, dass du einlenkst bzw. mir zustimmst, nur weil du glaubst, dass du das musst. (Ich schreibe das so deutlich dazu, weil ich es von mir kenne und dann doch mit meinem Schmerz und meinen Problemen alleine bleibe.) Denn wenn du die Veränderungen nicht akzeptieren willst, ist das auch okay.
Aber vielleicht ist da ja auch ein kleiner Teil, der den Schmerz gerne loslassen würde und dann könnte das ein Weg sein. (: