von verrückte-nudel1981 » Fr. 17.11.2006, 21:22
Sie
Eine halbe Stunde wartete Kai schon am Bahnhof auf sie. Aber sie kam nicht. Zwei Züge hatten inzwischen am Bahnhof gehalten, doch aus keinem der beiden war sie ausgestiegen. Nun wurde ihm klar, dass sie nicht mehr kommen würde. SIE hieß Evelyn, war 29 Jahre alt, aus Hamburg, die ihn vor einiger Zeit mit ihrem strahlenden Lächeln, ihrer sanften Stimme und ihrer offenen Art verzaubert hatte. Im Internet hatten sie sich kennen gelernt. Er schrieb auf ihre Kontaktanzeige, rechnete jedoch nicht mit einer Antwort. Denn warum sollte ihm eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht, wie es in ihrer Kontaktanzeige hieß, ausgerechnet auf seine doch recht kurze Antwort zurückschreiben? Insgeheim wünschte Kai sich aber, dass sie sich melden würde. Als er zwei Tage später in seinem E-Mailpostfach nachsah, traute er seinen Augen nicht. Evelyn hatte ihm tatsächlich geschrieben und direkt ihre Telefonnummer hinterlassen. Das wunderte ihn schon. Anfangs war er skeptisch. Sollte er sie anrufen oder nicht? Vermutlich würde Kai während des Telefongespräches so aufgeregt sein, dass er kaum ein Wort sagen konnte. Worüber sollte er mit ihr reden? Er merkte plötzlich, dass ihm das alles zu schnell geht. Wollte er das alles überhaupt? Hatte er doch sein Single-Dasein in der letzten Zeit genossen und wollte es im Grunde genommen nicht ändern. Na ja, jeden Abend alleine einzuschlafen und jeden Morgen alleine aufzuwachen, war zwar auch nicht gerade schön, aber man konnte sich dran gewöhnen. Am nächsten Tag beschloss Kai trotz seiner doch recht großen Angst Evelyn anzurufen. Sie freute sich sehr über Kais Anruf. Das Eis war schnell gebrochen und so plauderten sie von nun an fast täglich abends stundenlang. Sie redeten über die Arbeit, ihre Hobbys, ihre Freunde und über ein gemeinsames Treffen, dass bald stattfinden sollte. Beide freuten sich sehr darauf. Am Abend vor dem ersten gemeinsamen Treffen rief Evelyn Kai an. Aber sie war anders als sonst. Ihre Stimme klang traurig und leise. Sie habe heute die Kündigung bekommen. Die Firma, in der sie nun schon fast 10 Jahre beschäftigt ist, wird geschlossen. Evelyn erzählte Kai von ihren Verlustsängsten, ihrer Angst vor der Zukunft und das sie nun überhaupt nicht wüsste, wie es jetzt beruflich für sie weitergehen sollte. Kai versuchte sie zu trösten, so gut es ging. Doch er merkte, dass sie eine unsichtbare Mauer um sich gebaut hatte, die nur schwer zu durchbrechen war. Vielleicht würde er sie ja beim Treffen am nächsten Tag aufmuntern können? Aber als er nun am Bahnhof stand und ihm klar war, dass Evelyn nicht mehr kommen würde, da wusste er, dass etwas passiert sein musste. Denn am Tag zuvor sprach Evelyn von Selbstmord. Kai nahm es allerdings nicht ernst, denn das Treffen hatte sie nicht abgesagt. Darum ging er davon aus, es sei nur eine Überreaktion gewesen, auf die er nicht näher eingegangen war. Kai wartete noch den nächsten Zug ab, aber als Evelyn auch da nicht ausstieg, fuhr er wieder nach Hause. Zu allererst setzte er sich vor seinen PC, um nachzuschauen, ob Evelyn ihm zumindest eine E-Mail geschrieben hatte. Das hatte sie. Als Kai die E-Mail las, war er schockiert, denn es war eine Abschieds-E-Mail. Sie erklärte ihm, dass sie schon jahrelang Probleme hatte und die Kündigung ihrer Arbeit nur die Spitze des Eisbergs wäre. Seit ihrem 14. Lebensjahr habe sie mit Essstörungen zu kämpfen, die sie nie ganz in den Griff bekommen hatte. Kein Therapeut hielt es lange mit ihr aus und sie wurde von einigen als „nicht therapiebar“ eingestuft. Auch den jahrelangen sexuellen Missbrauch ihres Onkels hatte sie nie verkraftet und darum war ihre Angst vor zu viel Nähe einfach zu groß gewesen. Sie entschuldigte sich dafür, Kai belästigt zu haben. Es würde ihr leid tun, ihn versetzen zu müssen, doch sie könnte jetzt nicht mehr anders handeln. Kai kamen die Tränen. Er rief die Polizei. Die wussten schon von Evelyns Selbstmord und hatten sie leider nur noch tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Er konnte es nicht fassen.Warum hatte sie ihm nicht früher von ihren Problemen erzählt? Hatte sie ihm nicht vertraut? Diese und noch andere Fragen schossen ihm durch den Kopf. Kai wusste nicht, was er machen sollte. Er war sehr traurig, weil er den Selbstmord von Evelyn nicht hatte verhindern können. Aber jetzt war es zu spät. Er konnte nichts mehr tun. Er war einfach nur traurig und ließ seinen Tränen freien Lauf. Nun würde er sie vergessen müssen. Doch das war sehr schwer, auch wenn er sie nie persönlich kennen lernen durfte.
by verrückte-nudel1981