von Lingenia » Sa. 24.02.2007, 02:27
Behinderungen
Der neue Schachspieler sah immer noch zu mir herüber, als ich mich der Garderobe aus meinem Mantel wand.
„Wollen wir eine Partie spielen?“, fragte ein Schach-freund.
Der Gast saß während unseres Spiels in unmittelbarer Nähe. Ich fühlte überdeutlich seinen Blick im Rücken. Wie kann man jemanden so penetrant anstieren, ärgerte ich mich. Ich hatte es noch nie leiden können, wenn mich jemand mit seinen Blicken beinahe auszog. Ich drehte mich allerdings kein einziges Mal zu ihm um. Ich blickte selten jemanden an, geschweige denn redete ich viel.
Nach dem Spiel ging ich zur Toilette. Im Blickwinkel sah ich, dass der Gast seinen Blick nicht von mir abwendete.
***
Zurück im Spielraum angekommen, wagte er es endlich, mich zu einer Partie Schach herauszufordern.
„Ich weiß nicht“, zögerte ich.
„Ich bin übrigens Claus-Stephan.“
„Nathalie“, sprach ich leise.
„Ich spiele grottenschlecht.“
„Na gut.“
Nach meinen drei gewonnen Spielen lehnte er sich frustriert zurück.
„In dem anderen Verein in Kaltenkirchen hat man mich rausgeworfen!“, erzählte er mir.
„Wieso denn das?“
„Weil ich nicht gut spiele. Weißt du, ich lerne nicht besonders schnell, brauch für das, was andere in fünf Minuten lernen, die drei- bis vierfache Zeit.“
Ich runzelte die Stirn. Eine Lernschwäche bedeutete doch nicht zwangsläufig, dass jemand nicht Schach spielen kann.
„Ich bin da auch keinem zunahe getreten, aber sie mochten mich wohl nicht! Wenn man ausgerechnet da ausgegrenzt wird, wo man wohnt, ist es echt hart.“
Ich spürte, wie nah es ihm ging; wenn mich auch gleichzeitig seine Offenheit irritierte.
„Ja, kenne ich.“ Ich war zu sprachlos, mal jemanden zu treffen, dem es ähnlich erging wie mir, als dass ich freiheraus von meiner eigenen Leidensgeschichte erzählen konnte.
„Ich werde wegen meiner Lernschwäche eigentlich mein ganzes Leben hindurch immer nur ausgegrenzt.“
„Aber man merkt dir doch diese Schwäche gar nicht an.“
„Du vielleicht nicht!“
„Ich denke, dass man auf jeden unvoreingenommen zugehen sollte.“ Ob es ihm auffiel, wie selten ich ihm in die Augen blickte?
„Wenn nur alle Menschen so wären“, seufzte er.
Wir schlenderten in den Flur. Die anderen Schacher hatten mehrmals grimmig zu uns herübergeschaut.
„Woher kommt deine Lernschwäche eigentlich?“
„Kurz nach meiner Geburt hatte man mich am Gehirn operiert und dabei sind Komplikationen aufgetreten. Ich hatte kein einfaches Leben.“
Ich bebte innerlich. Einerseits war er mir sympathisch, aber andererseits fragte ich mich, ob er mal daran dachte, dass er nicht der einzige war, der Probleme hatte?
„Was tust du eigentlich beruflich?“, fragte ich ihn.
„Ich arbeite in einer Behindertenwerkstatt. Und du?“
„Ich gehe in die 11. Klasse.“
„Du bist also intelligent und gebildet?“
Ich lächelte verhalten.
„Ich bin kein großer Denker“, erzählte er mir, „wenn ich an den Rest meiner Familie denke – alles solche Grübler.“
„Ja, Grübeln macht unglücklich.“
***
„Ich hätte lieber deine Behinderung“, sprach Claus-Stephan fest aus.
Unvermittelt stellte ich mir die Frage, wofür ich mich, wenn ich wählen könnte, wohl eher entscheiden würde? Für Claus-Stephans geistige Behinderung oder meine körperliche? Was war schlimmer? Nicht gut sehen zu können? Oder nicht gut lernen zu können?
Vielleicht würde mich die Tatsache, dass mit seiner geistigen Schwäche keine Grübelei verbunden war, zu Wahlmöglichkeit „geistige Behinderung“ verführen.
„Ich wohne übrigens in einem Wohnheim für Behinderte. Dort gibt es auch viele andere Betroffene. Die sind natürlich alle ganz nett, aber ich komm mir da schon öfter blöde vor. Weil die stark geistig behindert sind. Die Normalos wollen mit mir eigentlich nichts zutun haben – vor allem wenn sie erfahren, dass ich behindert bin. Es ist echt nicht leicht, anders zu sein.“ Er senkte den Kopf.
„Sprich nicht von Normalos! Sind wir „abnormal“, nur weil dein Gehirn und meine Augen nicht 100%ig funktionieren??“
„Aber viele Nichtbehinderte sehen sich doch als Normalos an!“
Ich konnte nichts entgegenhalten. Genauso wenig wie ich etwas dagegen tun konnte, dass meine Augen feucht wurden. Jede Pause musterten meine Mitschüler mich oder schossen Wortpfeile auf mich ab – am liebsten, indem sie mich „Oma“ nannten.
Ich kniff meine Augen hinter den Aschenbecher dicken Gläsern zusammen, sonst sah alles um mich herum aus, als blicke man durch eine Milchglasscheibe.
Claus-Stephan tat mir natürlich leid, aber was sollte ich denn tun? Eine große Stütze konnte ich ihm nicht sein. Als Leidensgenossen kämpften wir zwar beide um Akzeptanz und menschliche Behandlung, doch der Unterschied unserer Schicksale und dass er deutlich älter war, hemmte mich. Wie sollte ich denn einem 34-jährigen gut zureden? Ich konnte nicht mit so Sprüchen wie „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ oder „Die Zeit heilt alle Wunden“ dahergekommen. Solche Sprüche hörte ich selbst nicht gerne!
„Wenn du anders bist, bist du immer irgendwie das schwarze Schaf, auf dem herumgetreten wird wie auf einer Fußmatte.“
„Ich schiele von Geburt an und bin stark kurzsichtig?“, bemerkte ich kühl.
„Also, ich finde, dass du eine ausgesprochen gutaussehende junge Frau bist!“
Die Röte stieg mir ins Gesicht.
„Dass mich viele nicht akzeptieren, ist übrigens gar nicht mal das Hauptproblem“, hörte ich ihn sagen...
***
„Also, ich kann es verstehen, dass man diesen Claus-Stephan in dem anderen Schachverein hinausgeworfen hat. Das ist der Jammerlappen schlechthin – und dass du dann noch mit ihm gemeinsames Wundenlecken praktiziert hast!“, meinte meine Freundin.
„Eine andere Reaktion war von dir nicht zu erwarten. Wie kannst du bloß so herablassend über einen behinderten Menschen sprechen?“
„Du bist immer viel zu hilfsbereit und sozial. Lass doch solche Gesellschaftskrüppel nicht immer so an dich heran. Die suchen doch nur jemanden, bei dem sie sich ausheulen und Mitleid wecken können. Am besten in weiblicher Form! Anstatt nun mal einen Therapeuten aufzusuchen.“
„Claus-Stephan hat mir erzählt, er habe Probleme mit dem anderen Geschlecht.“
„Also, ein Krüppel auf ganzer Linie.“
„Meinst du, er findet es toll, erfahrungslos zu sein?“
„Wundert dich das? Wer würde sich denn auf so einen Krüppel freiwillig einlassen?“
Wenn sie sich über Claus-Stephan schon so ausließ, war es für mich naheliegend, dass sie auch über mich so dachte.
Meine Gedanken drehten sich um Claus-Stephan. Unser Gespräch hatte mir so viel gegeben. Dass da jemand war, der genauso fühlte und dachte wie ich, der auch regelmäßig auf die Ablehnung bestimmter Teile der Gesellschaft stieß, der sich genau wie ich einfach nach ein wenig Anerkennung, vielleicht sogar Liebe sehnte. Sich einen Partner und Freunde zu wünschen war schließlich legitim.
Ich ließ die nun ehemalige Freundin stehen.
***
Es dauerte ein paar Monate, bis ich Claus-Stephan wiedersah. Er habe familiäre Probleme gehabt, wie er mir erklärte.
„Ich mache beim Schach kaum Fortschritte“, ärgerte er sich, nachdem ich ihn zum vierten mal besiegt hatte.
Wie beim letzten gemeinsamen Vereinsabend versuchte ich ihm zu erklären, dass es seine Zeit brauche, bis man gut Schach spiele, doch Claus-Stephan wollte nicht vom normalen Schachspieler ausgehen. Für ihn war sein eigenes System entscheidend und darum sei es eben schlecht bestellt, wie er es ausdrückte.
Die letzten Wochen hatte ich mir meist mit Nachdenken ausgefüllt. Ich hatte durchaus das Recht, ihm Ratschläge zu geben! Sie kamen von Herzen - von einem Menschen, der wusste, was er durchmachte. Inwieweit er diese annahm, blieb ihm überlassen, aber ich hatte keine Hemmung mehr, ihn zu trösten.
„Deine Schwäche schließt nicht aus, dass du irgendwann gut Schach spielen kannst.“
„Wünschst du dir manchmal, normal zu sein?“
Ich zögerte mit meiner Antwort nicht: „Nein.“
„Nein?“
„Nein. Wozu mir wünschen jemand zu sein, der ich längst bin?“
Er öffnete den Mund, doch beließ es dabei.
„Ich habe übrigens die Schule gewechselt“, erzählte ich ihm.
„Scheint dir gut zutun!“
***
„Claus-Stephan Behrend“, meinte der Fremde hinter uns.
Totenblässe trat Claus-Stephan ins Gesicht und seine Glieder spannten sich an.
Ich furchte die Augenbrauen.
„Na, hast du dir wieder mal ein Opfer zum Ausheulen gesucht?“ Er gehörte offensichtlich dem Kaltenkirchener Schachverein an.
Ich drehte mich um und blickte in das Gesicht eines yuppiehaften Mittvierzigers. „Wer sagt, dass er aktiv war? Vielleicht habe ich mir ja auch ein Opfer gesucht, das sich bei mir ausheult?“ Claus-Stephan hatte Recht – die neue Schule mit den netteren Mitschülern tat mir gut!
„Immer dieses Gejammer von den Behinderten. Die angebliche Schlechtheit der Gesellschaft, keiner akzeptiere sie – und dann immer dieses Gerede vom Normal- und Anderssein. Behinderte sind nun mal anders – isso!“
„Ich hatte mal geglaubt, wir wären alle ein wenig anders“, ironisierte ich. Claus-Stephan stellte sich neben mich. Er konnte dem Fremden, aus welchen Gründen auch immer, kaum ins Gesicht sehen.
„Dann ist der Unterschied vom Behinderten zum normalen Menschen halt größer.“ Ich musterte ihn augenscheinlich. „Ist was?“
„Tragen Sie immer einen Anzug?“
„Ja, denn es geht doch nichts über stilvolles Auftreten.“
„Sehen Sie. Auch Sie sind anders – denn der Freizeitlook der Masse sieht doch anders aus.“
„Aber ich bin deshalb noch lange nicht abnormal.“
Im Blickwinkel sah ich Claus-Stephan, der gehemmt da stand.
Die verbalen Entgleisungen, die sich der Fremde in der Vergangenheit erlaubt hatte, schienen in tief verletzt zu haben.
„Aber Behinderte sind es Ihrer unmaßgeblichen Meinung nach?“
„Es gibt wohl einen körperlichen oder einen geistigen Unterschied von einem Behinderten zu einem Nichtbehinderten. Wenn man nach der Norm geht, liegt es auf der Hand, dass der Behinderte eben abweicht.“
„Nur wenn er sich von seiner Behinderung behindern lässt“, schaltete sich Claus-Stephan ein.
„Eben“, sagte ich ungläubig und zugleich stolz, „Wenn man Sie nimmt und von der Norm ausgeht, dass die meisten Menschen ihre Freizeitkleidung anders wählen, gehören Sie auch einer Minderheit an, die man abnormal nennen könnte.“
„Eine Unverschämtheit ist das“, fuhr er mich an und stampfte aus dem Vereinshaus.
„Nein, nur eine andere Sichtweise“, flüsterte Claus-Stephan und legte seine Hand auf meine Schulter.
Ich lächelte. „Wir bleiben bei unserem neu gewonnen Selbstbewusstsein, ja?“
„Nathalie, es sollte mehr Menschen geben wie dich.“
Ich senkten den Kopf und errötete.
Als ich ihn wieder ansah, zwinkerte er mir zu und da wusste ich, dass uns etwas sehr tiefes Verband.
Zunächst blickten wir beide noch durch eine Milchglasscheibe, die sich im Verlaufe der Zeit allerdings lichtete.
„Wie kannst du in mich verliebt sein – ich bin weder intelligent, noch gebildet“, wunderte Claus-Stephan sich, als ich ihm gestand, wie viel er mir bedeute.
„Du bist ein Mensch!“, strahlte ich...