von Lingenia » Fr. 23.02.2007, 03:51
Rochade
Jeder Mensch hat diese Zellen in sich. Sie sind vollkommen harmlos – eigentlich. Bis sie es plötzlich nicht mehr sind. Dann geht alles sehr schnell. Erst sieht es aus wie eine Grippe. Schnupfen, Husten, Unwohlsein. Dann kommt Übelkeit dazu. Man fühlt sich immer schwächer, immer kränker, jeden Tag ein wenig mehr. Dann kommt der Stichtag. Entweder, man ist bis dahin bei einem Arzt gewesen, es wurde eine Diagnose gestellt und die Therapie eingeleitet – oder man stirbt.
„Dein Papa ist sehr krank.“
Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen. Sie war nicht der Typ für so was. Bis zu diesem Tag war ich der festen Überzeugung, meine Mutter hätte keine Gefühle, sondern einstudierte Handlungsabfolgen. Für jede eintretbare Situation eine. Gesellschaftlich konform und moralisch wie politisch korrekt. An diesem Tag war plötzlich gar nichts mehr korrekt. Die Ärzte wussten nichts Sicheres, aber dass es ernst war, das wussten sie. Einen Verdacht hätten sie, bekam ich mit, ohne dass es mir jemand gesagt hätte. Der Verdacht reichte offenbar aus, um meinen Vater direkt von der Hausarztpraxis ins Krankenhaus zu überstellen. Meine Mutter wirkte überfordert. Das stand ihr nicht. Sie war grundsätzlich niemals überfordert.
Es war ein eigenartiges Gefühl, als die ersten wildfremden Menschen auf mich zukamen, um mir ihr Mitgefühl aus zu drücken und sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Alte Menschen, junge Menschen, Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und Menschen, die meinen Namen kannten, ich ihren aber nicht. Menschen, die mich ansahen, als wäre ich ein Anrufbeantworter. Ein Anrufbeantworter der Moral, der sie nachgingen, um ihr Gewissen und ihren Anstand im Trockenen zu haben. Piep – danke für Ihr Mitgefühl. Manchmal dachte ich, ich hätte eine Liste führen sollen, auf der ich mir die Namen der Mitfühlenden vermerke. Nur sicherheitshalber. Die hätte ich dann dem Pfarrer geben können. Der hätte sicher gewusst, wohin damit. Ich wusste es nicht.
„Ich soll dich von Brigitte und Helmut grüßen. Und von einer älteren Frau mit Hornbrille und einem Rauhaardackel – aber ich weiß nicht, wie sie heißt“, sagte ich und klang fremd durch den Mundschutz. Die Gummihandschuhe nervten mich. Sie klebten und man schwitzte darunter. Meine Mutter sah aus, wie eine Op-Schwester, wie sie da an seinem Bett stand auf der anderen Seite. Die blauen Kittel verschluckten jede Kontur und machten alle gleich. Mundschutz und Handschuhe dazu, dann noch diese Hauben, die man sich über die Haare ziehen musste, und ich hätte meine Mutter nicht mehr erkannt, wäre ich nicht mit ihr durch die Schleuse gekommen. Mein Vater lag in diesem weißen Bett in diesem weißen Zimmer in einem weißen Hemd und hatte die Decke weggestrampelt. Ihm war zu warm. Er wollte das Fenster aufmachen, aber die Ärzte wollten das nicht. Er lachte, sie lachte und ich wanderte zum Fenster hin und sah hinaus. Mein Vater war mit einem Metzgermeister gut befreundet, der eine ganze Kette von Metzgereien rund um unseren Wohnort besaß. Willi hieß er. Schweinemörder nannte ich ihn immer und lachte dabei. Und Willi lachte mit, wie er grundsätzlich immer lachte, egal, worum es ging. Eine Woche nachdem sie meinen Vater in dieses Zimmer verfrachtet und sämtliche Keime und Bakterien ausgesperrt hatten, kam der Schweinemörder mit einem gigantischen Fresskorb in die Klinik. Wurst, Speck, ein paar Brötchen. Was man eben so braucht zum Gesundwerden, wenn man Willi glauben wollte. Als die Schwestern ihm erklärten, dass man dieses Ding niemals keimfrei bekäme und es deshalb nicht zu meinem Vater rein könnte, schenkte er den Korb den Schwestern, damit sie sich besonders gut um meinen Vater kümmerten und brachte meiner Mutter einen Schinken nach Hause, der halb soviel wog wie ich.
Es war im Religionsunterricht. Ich weiß gar nicht, weshalb wir etwas aus der Bibel lesen sollten – das hatten wir vorher nie getan und danach auch nie wieder – und noch weniger wusste ich, weshalb ich mich meldete und laut lesen wollte. Als ich es dann tat, kam ich drei Sätze weit. Dann wurde mir schlecht. Es klang nach Beerdigung. Niemand sprach mich darauf an, als ich in die Klasse zurück kam. Ich schätze, der Lehrer hatte es ihnen erklärt. Ich hatte es ihm erklärt, ein paar Tage vorher. Nicht, weil ich damit gerechnet hätte, irgendwelche Nervenzusammenbrüche im Unterricht zu erleben. Einfach nur, weil die Schule derart unwichtig war neben dem, was in meinem Leben derzeit so passierte, dass ich verlangte, dass auf diese Umstände Rücksicht genommen würde – seitens der Schule.
Zuhause war es sehr still in diesen Wochen. Irgendwann hatte ich meinen Vater seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und meine Mutter nur im Vorübergehen zwischen Arbeit, Krankenhaus und ihrem Bett. Ich lebte vor mich hin, lenkte meine Großmutter von dem ab, was vor sich ging und sie mich.
Sie spritzten Chemikalien in ihn rein, die alles vernichten sollten, was meinen Vater krank machte. Allerdings waren diese Chemikalien sehr gründlich und vernichteten gleich noch ein paar Dinge mehr. Seinen Magen zum Beispiel. Und sein Immunsystem.
„Ein Schnupfen könnte deinen Vater im Moment umbringen“, erklärte meine Mutter und schob mir eine Broschüre aus dem Klinikum zu:
´Diagnose Krebs´
Ich verstand nur die Hälfte, wenn überhaupt. Es war zu kompliziert, zu viel, zu detailliert. Vielleicht war es auch einfach zu medizinisch.
„Akute myloische Leukämie“, sagte sie zum zweiten Mal. Und noch ein drittes Mal. Dann schrieb ich es mir auf und las es immer wieder, bis ich es aussprechen konnte.
Krebs, der im Blut ist. Nicht vererbbar, versicherte man meinen Eltern auf Nachfrage. Der Vater meines Vaters war an Kehlkopfkrebs gestorben. Als mein Vater zu Weihnachten auf eigene Gefahr nach Hause kam, hatte er keine Haare mehr auf dem Kopf und sah plötzlich sehr alt aus. Er war nicht zur Ruhe zu bringen, wirbelte durch die Wohnung, kochte, putzte, ging spazieren und tat alles, was er vermeiden sollte. Im Klinikum hatte er das Fenster geöffnet, erzählte er, und sich dort hingestellt, um eine Zigarette zu rauchen. Immer auf der Hut, dass ihn niemand erwischte. Sie rochen es und sagten ihm, er solle das sein lassen. Dann starben die anderen. Alle. An manchen Tagen nur einer, an anderen zwei. Und am Ende war nur noch mein rauchender Vater auf der Station und sie ließen ihn in Ruhe.
Er hatte sich nicht behandeln lassen wollen, hatte meine Mutter mir gestanden. Als sie mir das erzählte, lag er schon im Krankenhaus. Ich verstand es nicht ganz, aber ich machte mir auch keine Gedanken darüber. Es war seine Entscheidung, fand ich.
Nach Weihnachten kam die Knochenmarktransplantation. Mein Vater hatte eine Schwester und das rettete ihm vermutlich das Leben. Dass mein Mark passen könnte, schlossen die Ärzte von vornherein aus. War wohl sehr selten der Fall bei Kindern und Eltern, dass es passte. Kurz vor der Transplantation saßen meine Mutter und ich an unserem Esszimmertisch und schwiegen uns an. Der Fernseher gähnte schwarz in den Raum, was er sonst nie tat, aber die Stille war irgendwie angenehmer.
„Wenn das Knochenmark transplantiert ist, kann man es nicht mehr rückgängig machen“, sagte sie, als wollte sie etwas anderes sagen.
„Und was kann passieren?“, fragte ich.
„Wenn der Körper das Knochenmark abstößt, dann kann man nichts mehr machen.“
„Stirbt er dann?“, fragte ich.
„Dein Vater ist sehr, sehr krank, Nina, und wir können froh sein, dass er schon so lange überlebt hat“, erwiderte sie.
Das war wohl ein Ja.
Der Körper stieß das Knochenmark nicht ab. Aber sein Darm verknotete sich und sie mussten operieren. Es ging alles sehr schnell. Bis ich davon erfuhr, war er schon wieder aus der Narkose erwacht. Einen Monat lang herrschte Katastrophenroutine. Mein Vater war inzwischen deutschlandweit Patient diverser medizinischer Einrichtungen gewesen: Ulm, Freiburg, Nürnberg, Frankfurt, Heidelberg. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen Kliniken wurde gelegentlich Gesprächsthema. Dann entzündete sich seine Lunge. Mir war nie bewusst, dass es keine Steigerung zu akuter Lebensgefahr gibt. Lebensgefährlicher klingt nicht nach einem Wort, das einer Logik folgt. Eher nach einer Erfindung hilfloser Menschen, die etwas ausdrücken wollten, das eigentlich etwas ganz anderes aussagt: Es gibt einen Zenit der Betroffenheit. Eine schlechtdenkbarste Konstellation von Umständen. Und wenn die erreicht ist, kann es nur noch mehr werden aber nicht mehr schlimmer. Mein Vater ging stundenlang rings um die Klinik spazieren, als sie ihn wieder raus ließen. Ein paar Punks brüllten ihm nach, er wäre eine rechte Sau. Mein Vater muss sich nicht sehr gesund gefühlt haben an diesem Tag. Er hat keinem von diesen Teenagern einen Knochen gebrochen. Ich überlegte, ob man das auch aufschreiben sollte. So wie die Mitleidsbekundungen. Eine Art Negativliste in derselben Sache bot sich irgendwie an. Aber ich wusste ja immer noch nicht, wohin der Zettel am Ende gesollt hätte.
Es gibt eine Statistik, die besagt, dass Rückschläge innerhalb von sieben Jahren nach Therapie-Ende eintreten oder gar nicht. Das bedeutet, dass mein Vater nicht an diesem Krebs gestorben wäre, auch wenn er nach sieben Jahren und zwei Monaten wieder ausgebrochen wäre, weil er dann als geheilt gegolten hätte und somit neu erkrankt gewesen wäre. Es brach aber nicht wieder aus. Wenn man sich einen Hund nach Hause holt, dann weiß man, dass dieser Hund wohl gute zehn Jahre leben wird – und man mit diesem Hund. Mit dem Krebs ist es ähnlich. Wenn man sich einen Krebs nach Hause holt, dann lebt man mit ihm. Er wird Teil des Alltages, weil es nicht anders geht.
„Guten Morgen.“
„Morgen. Sind Brötchen da?“
„Im Brotkasten. Wurst ist auch da, schau mal in den Kühlschrank!“
„Ah, klasse. Lebt Papa noch?“
„Um neun rufe ich mal an und frage.“
Nein, so ist es auch wieder nicht. Aber so ähnlich. Man kann nicht ständig darüber nachdenken, was wäre, wenn. Ich glaube, der Begriff akute Lebensgefahr wurde im Denken erfunden, Lebensgefahr müsste etwas Spontanes sein, das nicht lange anhält. Ein Entscheidungsprozess, der Stunden, im schlimmsten Fall Tage dauern sollte – aber dann fiel eine Entscheidung. Entweder, oder. Tod oder Leben. Leben oder Tod. Dass die Medizin irgendwann so weit sein würde, Lebensgefahr über Monate und Jahre hinaus zu ziehen, ahnte damals vermutlich niemand. Man kann nicht ständig in Todesangst leben. Nicht, weil man es nicht aushält – weil man es einfach nicht kann. Die Angst lässt nach. Man denkt: Es wird schon gut gehen. Oder man denkt: Und wenn es passiert, dann leidet er zumindest nicht mehr. Oder beides gleichzeitig. Man glaubt den Ärzten, wenn sie sagen, dass alles gut wird. Und man glaubt ihnen, wenn sie sagen, dass alles vorbei ist. Dann hört man irgendwann auf damit und glaubt den Fakten. So lange er lebt, ist alles gut gegangen. Wenn er das nicht mehr tut, dann ist es schief gegangen. Ärztliche Prognosen können so zuverlässig sein, wie mathematische Formeln. Oder so unzuverlässig, wie ein blinder Heckenschütze. Individualismus auf medizinisch bedeutet Unberechenbarkeit. Man reagiert, weil mehr nicht möglich ist. Der Krebs hat immer die weißen Figuren. Und er hat drei Damen auf dem Feld. Grundsätzlich.
Als mein Vater wieder nach Hause durfte, galt er als vorläufig geheilt. Unter Vorbehalt, hätte man sagen können. Sieben Jahre. Dann war er zwar auch nicht gesünder oder weniger gesund als vorher, aber dann durften die Ärzte ein Häkchen bei „geheilt“ machen. Sieben Jahre Garantie auf das Leben meines Vaters. Ohne Ersatzanspruch im Falle eines Totalschadens. Die Chemikalien, die seinen Magen und den Krebs gefressen hatten, hatten sein Gehirn auch nicht unbeschadet gelassen. Manchmal saß er minutenlang schweigend am Tisch und starrte vor sich hin.
„Papa, gehst du heute Abend mit auf den Geburtstag?“
...
„Papa?“
...
„Papa, ob du mit auf den Geburtstag gehst?“
Oft schreckte er dann plötzlich auf, als wäre ich aus dem Nichts erschienen. Sein Blick wanderte in meinem Gesicht herum, als müsste er erst zuordnen, wer ich war. Die Frage hatte er nicht gehört und ich beließ es dabei.
Er kaufte sich ein Motorrad. Meine Mutter ging auf Konfrontationskurs und legte jedes Veto ein, das sie hatte. Ohne Erfolg. Drei Monate später machte sie selbst einen Motorradführerschein und sie fuhren gemeinsam durch die Gegend. Immer Samstags und Sonntags. Wenn die Sonne schien, waren sie manchmal den ganzen Mittag über fort. Irgendwann kauften sie mir einen Helm und ich fuhr auf der Maschine meiner Mutter mit. Familie auf Motorradtour. So was hatten wir davor nie gemacht. Ich spekuliere, es klappte auch nur, weil man mit einem Helm auf dem Kopf nicht reden kann. Man ist nur da. Ist beisammen, einige Meter hintereinander und hundert Stundenkilometer schnell. Eine sehr sichere Art, zusammen zu sein, ohne sich zu nahe zu kommen.
Ein Jahr später wollte mein Vater an einem Offroadrennen teilnehmen, dessen andere Fahrer alle höchstens halb so alt waren wie er. Beim Training brach er sich eine Rippe an. Von dem Rennen sprachen wir nicht mehr. Er fing wieder an, Tennis zu spielen, so wie er es vor dem Krebs getan hatte. Aber das behielt er nicht lange bei. Von seinen ehemaligen Mannschaftsgenossen waren kaum noch welche da. Sie fühlten sich zu alt und mein Vater fühlte sich verraten. Als die Mutter meines Vaters starb, blieb er nicht lange im Sterbezimmer, sondern verließ gleich das ganze Krankenhaus, um meine Mutter anzurufen. Um die Beerdigung haben wir uns alleine gekümmert, so weit wir dazu imstande waren. Schließlich war er Erbe. Vielleicht ist es verrückt, den Tod nicht herausfordern zu wollen, indem man ihm nicht zu nahe kommt. Als hätte er Augen und Ohren. Mein Vater könnte gedacht haben, wenn er dem Tod zu nahe kam, könnte der ihn riechen und sich daran erinnern, dass er da noch wen vergessen hatte. Wenn das so war, dann hat der Tod eine verdammt lange Leitung. Acht Jahre lang herrschte Ruhe. Mein Vater war kein junger Hüpfer mehr und gesund war anders, aber er war am Leben und beschwerdefrei. An die Nebenwirkungen der Medikamente, die er ständig schlucken musste, hatte er sich wohl weitestgehend gewöhnt. Dann kamen die Schmerzen.
Es ist schwer, jemandem zu erklären, wie es aussieht, wenn ein Mensch von innen nach außen zu verfaulen anfängt. Außerdem stimmt das so auch nicht, aber es produziert Bilder in Köpfen, die den Tatsachen relativ nahe kommen. Wenn das Immunsystem verrück spielt, dann vernichtet der Körper sich systematisch selbst.
„Dieser Organismus wird sich in dreißig Sekunden selbst zerstören. Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig... “
Das Problem mit Gift ist, dass es nicht zwischen Gut und Böse unterscheidet. Es ist einfach nur giftig. Es vernichtet das Immunsystem so weit, dass es sich im Grunde neu aufbauen muss und nebenbei vernichtet es jeden Schutz vor Krankheiten. Es sorgt dafür, dass der Körper nicht weiter verfault und gleichzeitig dafür, dass der Magen immer weniger seiner eigentlichen Funktion gerecht werden kann. Und es zersetzt Knochen. Die Wunden schlossen sich, einige Monate herrschte Ruhe, dann kamen neue, andere Schmerzen. Cortison zersetzt Knochen. Sie operierten und mein Vater bekam ein künstliches Hüftgelenk. Die Schmerzen hörten auf. Das Cortison musste er weiter nehmen, damit das Immunsystem nicht wieder außer Kontrolle geriet. Aber irgendwann hilft es nicht mehr.
Vielleicht geht es gar nicht immer darum, zu überleben. Ich könnte mir vorstellen, dass es manchmal darum geht, sich nicht einfach umbringen zu lassen - auch nicht vom eigenen Körper. Manchmal geht es vielleicht auch um Macht. Darum, wer entscheidet, wann es zuende ist und wie. Sie haben ihn radioaktiv bestrahlt und Gift in ihn hineingespritzt. Haben etwas Grundliegendes an ihm ausgetauscht und alles, was sie hatten, aufgeboten, um dafür zu sorgen, dass es unter Kontrolle von außen blieb. Aber es hat sich davon nie wirklich beeindrucken lassen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass der Krebs zu keiner Zeit wirklich besiegt war, sondern nur gelauert hat. In irgendeiner Vene oder irgendeinem Organ wird er gesessen und gewartet haben. Aber gewonnen hat er nicht.
Wir spekulierten nie auf die Versicherung und waren irritiert darüber, dass sie wirklich an einen Unfall glaubten. Uns war klar, dass es kein Unfall gewesen war. Er hatte sogar extra einen Tag abgewartet, an dem es goss wie aus Kübeln. Das machte den ganzen Unfall natürlich glaubwürdiger. Mein Vater war ein guter Fahrer, da brauchte es schon nassen Untergrund und Sicht unter fünfzig Metern, um halbwegs plausibel zu machen, dass er aus einer Kurve flog und in eine Baumgruppe. Der Notfallarzt sagte, er sei sofort tot gewesen. Wir weinten recht viel. Das sicher. Aber unter die Trauer mischte sich eine gewisse Erleichterung, die man einem Außenstehenden nur schwer erklären kann. Vielleicht ist es übertrieben, einem Gegner, den man anders nicht besiegen kann, einfach die ganze Partie zu versauen, indem man sich dem Spiel entzieht. Eine Prinzipiensache, denke ich. Aber der Krebs hat immer die weißen Figuren und drei Damen auf dem Feld. Und vielleicht ist das alles, worum es zuletzt geht. Ihn nicht gewinnen zu lassen.