Der Atem des Windes

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Der Atem des Windes

Beitragvon onetwothree » Di. 30.07.2013, 17:39

Der Atem des Windes

Jaque stand regungslos an der Waldlichtung. Der Wind schmiegte sich an seinem Körper entlang und hinterließ seine Kleidung in einem bescheidenen Schaukeln, als würde ein kräftiger Windstoß ein ganzes Kornfeld zum Tanzen bringen.
Die tränennassen Augen zusammengekniffen zu mandelförmigen Schlitzen, fast zur Gänze von seinem zausen, blonden Haar verdeckt. Ungläubig fixierte Jaque etwas in der Ferne. Seine Augen wurden von Mal zu Mal kleiner und er versuchte, die Entfernung zu überbrücken. Feines, kaum wahrnehmbares Wasser, in Form kleiner Tröpfchen kreuzte seinen messerscharfen Blick und schaffte es, die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu richten. Schlagartig schnellten seine Augenlider auseinander und sein Blick wurde plötzlich leer und hinterfragend. Er warf langsam seinen müden Kopf in den Nacken um empor zu blicken. Hinauf, dorthin wo dieses sonderbare Nass seinen Ursprung fand.
Jaques bleiche Haut wurde vom Regen geküsst, er genoss jeden einzelnen Tropfen, der ihn zu reinigen schien. Der sonst so unendliche Himmel versteckte sich an jenem Tag hinter unzähligen, erdrückenden Wolken. Immer noch nach oben starrend verharrte der schmächtige Junge am Waldrand. Als sein vom Regen getränktes Gesicht gänzlich mit Tropfen bedeckt war, schloss er entspannt die Augen und seufzte hörbar zufrieden.
Jaques linke Hand hob sich langsam und steuerte auf seinen Kopf zu. Er legte sie an seine rechte Schläfe und strich sein nasses Haar von seiner Stirn zur Seite, öffnete seine Augen sehr träge und erschöpft und seufzte abermals sehr tief, dieses Mal aber war sein Seufzen von Wehmut untermalt. Er suchte in der Ferne wieder nach dem Objekt seiner Begierde und fand es nahezu mühelos auf Anhieb wieder. Je länger er es im Auge behielt, umso klarer und vollständiger wurde das Bild. Dieses Etwas… so weit entfernt… es war ein Tier. Es war ein Reh. Ein kleines, liebliches Reh, welches seinen Hunger an einem kargen Strauch zu stillen versuchte. Jaque setzte langsam einen Fuß vor den anderen um dieses friedliche Wesen von der Nähe betrachten und verstehen zu können. Er schritt stetig und flott voran um keine Zeit zu vergolden und um diese Gelegenheit nicht zu verpassen. Mit jedem Meter den er nun näher gekommen war, wurde die dunstige Silhouette des Tieres deutlicher und besser zu erkennen.
Das Fell des Rehs glänzte kohlrabenschwarz und war von gräulich schimmernden Linien geziert. Das seltsame Tier war verwundet, an der linken Schulter vernahm Jaque eine klaffende und blutende Wunde. Als hätte ihm ein Raubtier einen gezielten Prankenhieb versetzt und somit einen langen, tiefen Riss im Fleisch hinterlassen.
Aus diesem Riss strömten Unmengen an Blut, aber es war kein gewöhnliches Blut. Es war eine schwarze, zähe Masse die wie heißer Teer aus der Wunde lief.
Er näherte sich dem Tier weiter in bedächtigen, leisen Schritten und bemerkte, dass dieses eigenartige Blut nicht auf den Boden floss. Nein, auf dem Weg nach unten verschwand es, es löste sich in Luft auf, als hätte es nie existiert.

Durch heftiges Zittern und wiederholtes Schlucken versuchte Jaque diese befremdende Situation ein Stück weit in die Realität zurückzuholen, vergeblich. Denn nun unterbrach dieses Wesen, welches jetzt wenige Meter vor ihm stand, seine Kaubewegungen und wandte den Kopf in Jaques Richtung. Erschrocken und zugleich fasziniert von dieser Mystik, die ihn umgab, hielt er inne. Das Reh fixierte den Jungen mit seinen goldgelb leuchtenden Augen, aber auch diese schienen der Anomalie entsprungen zu sein. So genau er auch die Augen musterte, es waren keine Pupillen zu sehen. Auch befanden sie sich zwar an der richtigen Stelle, jedoch waren beide Augen ziemlich tief im Schädel versenkt. In diesen Augenhöhlen war es schwärzer und dunkler als nirgendwo anders und der gefallene Schatten hüllte die glänzenden, grellen Kugeln in einen einzigartigen Schleier, als wären sie in Samt gebettet worden.
Nach einem kurzen Duell der unglaubwürdigen aber interessierten Blicke setzte sich dieses rätselhafte Wesen in Bewegung. Aber nicht etwa um zu flüchten, nein, es schritt auf Jaque zu. Anmutig und keinesfalls zögernd verdrängte es die Distanz zwischen den Beiden. Aus der Wunde des Tieres ergoss sich noch immer ein Wasserfall aus schwarzer, zäher Flüssigkeit, der im Nichts verschwand. Er hatte kein Ziel, kein Ende.
Jaques Körper fror und seine schmalen Lippen bebten heftig. Zitternd stieß er seinen Atem in Form von kleinen Nebelwölkchen aus, doch als ihm das Reh unmittelbar gegenüber stand, schnürte ihm eine unsichtbare Gewalt die Luft ab und er hielt den Atem an. Da stand es nun, direkt vor ihm, zum Greifen nahe. Neugierig hob es seine schwarze, glitzernde Schnauze und streckte sie ihm schüchtern schnuppernd entgegen. Jaque konnte sich überreden, seine schweißnasse Hand zögernd zu heben und sich dem Kopf des Tieres zu nähern. Sehr langsam, fast schon in der Luft still verharrend, griff er nach ihm. Jaque spürte schon den Atem des Rehs an seinen Fingerspitzen, doch es war kein gewöhnlicher warmer Atem. Ein eisiger Hauch streichelte seinen Arm entlang und das hörbare Schnauben des Rehs bedeckte Jaques Hand mit einer zarten Eisschicht. Ungläubig staunend zog er sie zurück und hielt sie sich vor Augen. Winzige, schwarze Eiskristalle haben sich auf der weißen Haut gebildet und lassen sie im mageren Licht schimmern.
Schließlich streckte Jaque seinen Arm wieder aus um die letzten paar Zentimeter der gebliebenen Distanz auch noch zu überwinden. Er näherte sich der zuckenden Schnauze in bedächtigem Tempo, seine Augen waren starr auf das Tier gerichtet und sein Herz schien, genauso wie sein Atem, still zu stehen. Endlich trafen die zwei Geschöpfe aufeinander. Jaques Zeigefinger berührte die eiskalte Schnauze des Tieres und plötzlich fegte ein warmer Windstoß um genau die Stelle, an der sich zwei Körper zu einem vereinten.
Der Wasserfall der sich aus der Wunde ergoss, verstummte, die klaffende Wunde verschloss sich langsam, das kohlrabenschwarze Fell des Rehs färbte sich Nuance um Nuance erst gräulich und schließlich braun, die Augen traten aus dem Schatten hervor und in ihnen bildeten sich die verloren geglaubten Pupillen. Zuletzt erwärmte sich der eiskalte Atem des Rehs blitzartig.
Plötzlich war Jaques Gegenüber ein schönes Reh, so wie es im Buche steht. Freundlich bewegte es seine Ohren, wandte sich von dem Jungen ab und verschwand mit vornehmen Sprüngen im Dickicht.
Jaques Augen starrten in den düsteren Wald hinein und er blieb mit ausgestrecktem Arm an jener Stelle zurück. Langsam senkte er seinen Blick, um seine Hand zu begutachten.
Das Einzige, was an diese Begegnung erinnert, sind die schwarzen Eiskristalle an Jaques Hand, die langsam seinen ganzen Körper bedecken und ihn restlos in schwarzem Eis ersticken lassen.
onetwothree
 

Re: Der Atem des Windes

Beitragvon Kleiner Elefant » Mi. 30.04.2014, 00:43

Du wirst es wohl nicht mehr lesen....

Ich fand die Geschichte spannend geschrieben.
Danke für den tiefsinigen Text!
Kleiner Elefant
 


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