von Kassandra » Mi. 30.03.2005, 15:59
Schmerzhafte Versuchung der Erfüllung des Individuums
Leonie dachte, sie hätte sie gefunden. „Tu es nicht,…“ schrie ihr Inneres. Es hatte Angst. Immer wieder hatte sie das Buch mit sieben Siegeln berührt und jeder Kontakt hinterließ unsägliche Schmerzen. Sie litt. Jahre vergingen, doch die Narben hatten sich tief in den unsichtbaren Teil ihrer Seele gebrannt. Narben aus der Vergangenheit und nie gelöste Probleme, deren Lösung ihr nur das Buch mit sieben Siegeln verraten konnte. Es war ihr Schatten auf dem Weg zu sich selbst.
Von Tag zu Tag kostete es sie mehr Kraft, zu verdrängen, Leere…. Es war anstrengend das Leben zu lieben, das man führte und doch nie wirklich geliebt hat. Es war anstrengend, der Welt immer das Gesicht zu präsentieren, was sie sehen wollte. Ein zufriedenes Lachen, Glück, Erfolg. Sie wollten stolz auf sie sein. Sie liebten dieses Bild von ihr, sie liebten ihre Lüge und nur Leonie wußte, dass sie seit jeher die Illusion war, die sie ihnen zum Fraß vorgeworfen hatte. Doch niemand ahnte etwas von dem Buch mit sieben Siegeln, das sie immer wieder heimlich berührte. Die Intensität der Schmerzen, die der anfänglichen Euphorie wichen, waren aufgrund ihrer Empfindsamkeit zu stark und als sich die Nesseln des Leidens auf ihrer Haut brannten, schaffte sie es nicht, es zu öffnen.
Ihre Seele litt stumm und lernte, mit den Schmerzen zu leben. Sie lernte den Wert der Verdrängung. Es machte sie hart, indem es ein immer dickeres Band um den im Laufe der Zeit schwach gewordenen Kern ihres Innersten legte.
Sie ging davon aus, dass es ihr Schicksal war und dass sie es tragen musste, wie jeder Mensch sein Schicksal tragen muss. „Ist nicht der einzige Unterschied unter den Menschen, dass die einen Schicksale von der Welt gesehen werden und die anderen sich in den eigenen vier Wänden abspielten?“, dachte Leonie. Manche, vielleicht die qualvollsten, spielten sich jedoch nur innerhalb des eigenen Körpers versteckt in der eigenen Seele ab. Heimlich, hinter der Fassade der Lebenslüge, konnten sie ungehindert wüten und ihr Gift sprühen. Ein tödliches Gift. Leonies Motivation zu leben fixierte sich mit der Zeit ausschließlich auf das Buch mit sieben Siegeln, in ihrer Illusion stellte es den Schlüssel zu ihrem Glück dar.
Die Tage vergingen und die Schmerzen wurden zu einem Teil von ihr, sie lernte, mit ihnen umzugehen. Sie lernte, wie sie das Buch berühren musste, damit die Schmerzen noch erträglich waren. Sie fühlte sich reif und ein Stück unverletzlicher. Sie war stolz auf ihre erlernten Fähigkeiten, nicht im Strom des Lebens zu versinken und schritt voller Mut voran. „Ist es nicht so, dass die Stärke von heute in den Schmerzen von gestern liegt?“
Sie war sich sicher, dass sie das Buch irgendwann öffnen könnte. Es brauchte nur Zeit. Leonie verließ sich auf ihren Instinkt, dem sie vertraute und der ihr mit Sicherheit sagen würde, wann der Zeitpunkt dazu gekommen war.
Als sie sich eines Nachts wieder dem Buch näherte, war sie sich sicher, dass ihr die nächste Berührung nicht mehr so wehtun würde. Sie schritt langsam auf das Buch zu, streichelte es zunächst nur in ihren Gedanken und begann das Leben zu spüren, sie begann tatsächlich sich selbst zu erkennen. Zu erkennen, was sie über Jahre hinweg verdrängt hatte. Sie ging davon aus, dass sie wieder zurückschrecken würde, auch wenn sie irgendwie spürte, dass es dieses Mal anders war. Das Buch zog sie jedoch an wie ein Sog. Sie hatte sich näher herangewagt, es zum ersten Mal gestreichelt und war wie hypnotisiert von den Gefühlen, das es in ihr auslöste. Es war, als ob ihre Seele wie durch Magie aus ihrem Körper stieg und über ihr schwebte. „Nicht zu fassen, sie leuchtet… „ Ein Glücksgefühl umströmte ihr Herz. Sie schloss die Augen und genoss den Rausch, der ihr zwar Angst bereitete, sie aber in einen Zustand versetzte, der fernab jeder bis dahin erlebter Realität war. „Ich bin vollkommen schmerzfrei… „ . Wie von Geisterhand getrieben hielt sie das Buch schon fast in den Händen, zog es voller Begierde an sich und war volltrunken vor Glück. Sie begann zu schreien, sie wollte mehr. Mehr Leben, mehr von diesem Empfinden, das sie die reinste Form des Glücks nannte.
Doch das Buch begann plötzlich Feuer zu fangen und an ihren Hände empfand sie plötzlich Schmerzen einer Intensität, die ihr zuvor unbekannt war. Sie schrie in ihrem Wahn, doch der Rauch erstickte ihren Atem, von den Flammen geblendet, konnte sie nichts mehr sehen. Ihre Schmerzensschreie hatten, ohne dass sie es bemerkt hatte, viele um sie versammelt. Ganz leise nahm sie aus der Ferne Stimmen war. Es waren flehende Stimmen, von den Menschen die sie liebten, sie baten sie unter Tränen: „Lass dieses Buch los, es wird dich töten.“ Sie hörte es, doch wahrnehmen konnte sie es nicht, sie war im Bann des Buches gefangen. Verschwommen nahm sie Menschen wahr, die sie dachte zu lieben und plötzlich sah sie mit ihren schmerzverzerrten Augen das böse Funkeln in ihren Augen. Augen, die vor Hohn, Neid und Kälte zerfressen waren. Sie erschrak trotz der Schmerzen, die die Hitze des Feuers verursachten. Es erschien ihr so unwirklich. Mit dem brennenden Buch in den Händen versuchte sie ihnen verzweifelt zu erklären, was passiert war. Doch sie erntete nur Kälte, die sie noch mehr traf als das lodernde Feuer. Sie schrie verzweifelt nach Hilfe, doch die Seele hinter diesen Augen lachte nur und drehte sich weg. Das Echo des höhnischen Gelächters pochte zwischen ihren Schläfen. Sie schrie. Da sah sie die Liebe und das Leiden in den Augen derer, die sie baten, das Buch fallenzulassen. Ihr Wunsch in diesem Feuer zu sterben, war jedoch größer als der zu leben, denn sie wusste nicht, ob sie die tiefen Wunden dieses Brandes jemals überwinden konnte.
Sie ergriff mit letzter Kraft die Hand derer, die sie liebten. Es war die Dankbarkeit, dass sie sie trotz des Wissens um das Buch liebten, die sie rettete. Sie ließ das Buch langsam fallen. Die äußere Schicht war verbrannt und zurück blieben die unberührten Seiten dieses Buches, versteckt unter schwarzem Ruß und Asche des verbrannten Einbands. Sie glitt benommen aus dem Keller, geführt von den Händen derer, die sie liebten. Das Buch ließ sie zurück.
Nun trägt sie die Narben der letzten Berührung und lebt weiter. Doch das Buch ist immer noch da, wenn auch nur in ihren Gedanken. Und Leonie weiß, dass sie, wenn die Zeit gekommen ist, wieder hinabsteigen wird, in der Hoffnung es irgendwann öffnen zu können.
Und sie weiß jetzt, was ehrlich war und sie kannte diejenigen, die sich nur in der Sonne ihrer oberflächlichen Lebenskunst gebräunt hatten. Sie war der Wahrheit ein Stück näher, deshalb war es ein guter Kampf gewesen. Auch wenn sie ihn verloren hatte und es noch nicht geschafft hat, das Buch vollständig zu öffnen.