von Lionoire » So. 11.03.2007, 18:33
Du hast so vieles gesagt, so vieles getan,
was mich so unerträglich, immer wieder aufs Neue, verletzt hat.
Ich lag am Boden- aber du hast es nicht gesehen.
Sahst nur dich und dein eigenes Leid.
Habe ich nicht immer getan, was du wolltest?
Warst du mir nicht immer wichtiger als ich selbst? Als mein verfluchtes Leben?
Warum hast du es nicht gesehen?
Du wolltest eine glückliche Tochter.
Ich habe versucht, sie dir zu sein.
Warum liebst du mich nicht?
Hast du doch gesehen, wie schlecht es mir geht?
Wenn ja, warum tust du dir dann selbst leid, statt mir zu helfen?
Warum sagst du, ich erwarte zu viel, wenn ich sage ich brauche dich?
Warum hast du mich nicht geliebt, als ich noch selbst an das geglaubt habe, was ich sein sollte?
Ich habe dir alles gegeben, was ich hatte…
Nicht geschlafen, weil du wolltest, dass ich Erfolg habe.
Nicht gegessen, weil du wolltest, dass ich schlank bin.
Gebetet, weil du wolltest, dass ich an Gott glaube.
Angst gehabt, weil du wolltest, dass ich nach dir rufe.
Und dann?
Was wolltest du mehr?
Ich habe dir für alles gedankt, was ich nicht bekam.
Aber ist es wirklich zu viel verlangt, wenn ich mich nach Liebe sehne?
Ich hatte niemals jemanden außer dir. Niemals.
Weil du wolltest, dass du all meine Liebe bekommst.
Ich bin ein Kind, Mama. Ich bin schwach. Ich habe nach dir gerufen, jede Nacht. Aber du hast mich nicht gehört.
Du hast meine Schreie so verstanden wie du es wolltest….
Du wolltest nie, dass ich stark bin. Denn wenn ich stark wäre, hieße das, ich käme ohne dich klar. Und was hast du dann getan? Als ich es versucht habe? Als ich aufstehen wollte und kämpfen, in einem Kampf der längst entschieden war?
Mich zum Psychiater geschickt….weil ich endlich so werden sollte, wie du es wolltest.
Der würde das schon machen, das verdorbene Kind auf den rechten Weg zurückbringen.
Für einen Augenblick, wie es mir scheint, und doch ewig, habe ich alles daran gesetzt, dass du wenigstens einen Grund hast, mich zu hassen.
Du tust mir so entsetzlich weh, wenn du mich nur ansiehst. Und mit jedem Wort, das du sagst, schlägst du deine Klauen in mein Herz. Reißt es auf, bis es verblutet.
Warum tust du mir das an? Wenn du doch nur mein bestes willst?
Warum hast du deine Tochter aufgegeben? Wenn du doch so stolz auf sie bist?
Wieso gibt es mich? Wenn ich doch nie gewollt war?
Ich habe dir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen- bevor du ihn aussprechen konntest.
Ich habe mich selbst verkauft, um dir zu zeigen, dass ich das bin, was du wolltest, dass ich es war, die deine Liebe verdiente.
Du wolltest, dass ich etwas besonderes bin: und ich war es immer, wenn auch nicht so, wie du es dir vorgestellt hattest: ein ungeliebtes Kind, das seine Seele für ein wenig Wärme an den Teufel verkauft hätte.
Warum wirfst gerade du mir vor, ich hätte keine Gefühle?
Wo du doch nicht den Schmerz in meinen Augen siehst?
Grau sind meine Augen geworden, eisgrau, genau wie alles, das ich sehe.
Du kannst immer noch mit meinen Smaragdaugen herumprahlen- denn niemand bekommt mich je zu Gesicht. Das ist alles, was ich noch für dich tun kann.
Jetzt, wo in mir nur noch Leere ist. Kein Hass…. Ich kann dich nicht hassen, Mama.
Das würdest du nicht wollen.
Aber mach doch einmal die Augen auf… schau dich um.
Hör auf, mich schlecht zu machen. Ich bin schlecht genug.
Bitte versuche wenigstens, die Schreie derer zu hören, die du achtlos fallen lässt, und zertrittst, all derer, die selbst daran kaputt gehen, dass sie mir helfen wollen, die um mich kämpfen…. Mich, ein verlorenes Kind?
Ich weiß, es ist schwer. Vor allem, weil du es nicht wahrhaben willst.
Weil du dann sehen müsstest, dass ich nicht mehr die Tochter bin, die ich war.
Weil du weißt, dass dir dann die Augen geöffnet würden.
Weil du sehen müsstest. Sehen, dass es Menschen gibt, die etwas wie mich lieben.
Dass du es trotz allem nicht geschafft hast, mich allein zu besitzen.
Zu lange habe ich dafür gekämpft, dass du mich liebst. Bis heute tue ich das.
Aber irgendwann hatte sich zu viel in mir angestaut…. Der Schmerz suchte einen Weg aus mir heraus.
In dieser Nacht habe ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas Verbotenes getan.
In dieser Nacht zog deine kleine Tochter los, um dein verhasstes Blut aus ihren Adern zu entfernen. Das Blut, das ich nicht verdient hatte, und das jetzt in meinen Adern kochte.
Diese Nacht war einer der wenigen Punkte in meinem Leben, an dem ich weinen konnte.
Ich saß da und sah meinem Blut zu, wie es sich mit den Tränen mischte.
Du hast es nie herausgefunden. Aber in dieser Nacht wäre ich fast gestorben.
Als ich zu mir kam, war ich so schwach, dass ich die nächsten drei Wochen kaum gehen konnte.
Aber davon wolltest du nichts wissen, davon war und bin ich überzeugt.
Also habe ich so weitergemacht wie bisher.
Nur irgendwie hat diese Nacht alles geändert, Mama.
Denn mir ist eins klar geworden: was ich tue, ist egal. Du wirst mich nie lieben.
Vielleicht hasst du mich nicht. aber kannst du verstehen, dass ich mehr will, dass ich mich nach Liebe verzehrt habe? Und nach Freiheit?
Du hattest jeden Menschen aus meinem Leben ferngehalten. Es gab niemanden außer dir, der mich hätte lieben oder befreien können.
Aber die Gewissheit die ich plötzlich hatte, beraubte mich meiner kindlichen Unschuld.
Jetzt bin ich kein Kind mehr, Mama.
Ich bin selbst weit genug, ohne Liebe auszukommen. Ich brauche dich nicht mehr.
Von da an habe ich geglaubt, eine Tür habe sich geöffnet, ein Weg sei da… der Schmerz hatte plötzlich einen Sinn und damit ein Ende.
Versteh mich nicht falsch… noch immer würde ich alles dafür geben, von dir geliebt zu werden.
Aber weil ich weiß, dass es dazu nicht kommt,… dass du mir das alles hier, was geschehen ist, und geschehen wird, was unaufhaltsam näher kommt, nie verzeihen wirst….habe ich zögernd meine Augen geöffnet.
Von da an, ab jener Nacht, war das Blut mein ständiger Begleiter… egal wann, egal wo. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte ich plötzlich etwas, das mir gehörte. Es war nicht deines. Es war MEIN Blut, MEIN Messer. Und vor allem waren es MEINE Schmerzen. Die konntest du mir nicht wegnehmen.
Wenn du all diese verbotenen Gedanken kennen würdest, wäre mir dein Hass sicher.
Doch das ist nicht alles. Plötzlich begann ich, mich über Grenzen hinwegzusetzen. Selbstverständliche Kleinigkeiten, könnte man sagen. Aber für mich waren solche selbstverständlichen Kleinigkeiten die Welt.
Ich begann sogar zu glauben, dass es in dieser Welt selbst für mich so etwas wie Hoffnung gab.
Ich widersetzte mich dienen Geboten… ließ mich vorsichtig auf das Verbotenste überhaupt ein: ich schenkte jemandem Vertrauen… der Beginn meiner ersten Freundschaft. Du hast es nie erfahren.
Aber dort fand ich etwas, was der Liebe, auf die ich hoffte, sehr ähnlich war.
Plötzlich war da jemand, der sich Sorgen um mich machte, wenn ich blass war. Zuviel getrunken oder mal wieder überdosiert hatte.
Der mich in den Arm nahm wenn ich fror. Der mich festhielt, als ich endlich weinen konnte.
Und der nachts nicht schlief, obwohl er nicht wissen konnte, dass ich auf einer Brücke stand und an ihn dachte.
Langsam bekam ich, zum ersten Mal, den Glauben daran geschenkt, dass auch für mich irgendwann Lachen mehr als ein Begriff zur Selbstverstümmelung ist. Mehr als eine Maske.
Ich wiegte mich in der Überzeugung, ich könnte es schaffen. Redete mir ein, ich wäre wirklich so kalt, hätte es nicht nur vorgegeben, weil du es wolltest.
Aber dann ging es plötzlich senkrecht nach unten.
Ich bin nicht länger die Tochter, die du zu haben glaubst.
Denn egal wie schlimm dein Bild von mir auch sein mag… so wie ich ist es bei Weitem nicht.
Denn im Gegensatz zu einer Tochter, für die eine 1.1 statt einer 1.0 den Weltuntergang bedeutet, bin ich eine echte Schande. Ja. Inzwischen bin ich so weit, dass du dich für mich schämen musst.
Was es schlimmeres gibt als eine 1- fragst du? Geld vielleicht? Nein, keine Sorge. Ich habe kein Geld ausgegeben…. Woher auch? Ich habe doch kein Recht darauf. Schon vergessen?
Mama, vielleicht wäre es das Beste, du wüsstest alles.
Du wirst es so oder so erfahren… sobald ich tot bin.
Denn egal wie gründlich du bisher gesucht hast… meine Abschiedsbriefe hast du nie gefunden.
Du willst wissen was darin steht?
Nein, willst du nicht. aber du wirst es einfach ausblenden, weil es nicht zu deiner Wahrheit passt, dass aus der Bilderbuchtochter zum Vorzeigen ein Alptraum und Fall für die Geschlossene geworden ist.
Du hörst es zwar, aber du verstehst mich nicht, wenn ich dir sage,
dass ich am Ende bin.
Dass von mir nicht mehr übrig ist als
ein Häufchen vernarbter Leere.
Eine tablettenabhängige Bulemikerin.
Ein psychisches Wrack, das bei Nacht entweder
Von seinem eigenen Tod in allen Einzelheiten träumt
Oder wach liegt und sich seiner Halluzinationen erfreut?
Das mit 10 Jahren anfing, Psychiatriefernlehrgänge zu studieren?
Das mehr Blut als Wasser zu sich nimmt?
Das auf den Kosenamen „Todesengelchen“ hört?
Das eher am Leben bleiben würde, als in einer Kirche zu sterben?
Das zum Teufel betet, bevor es das Messer ansetzt?
Das sehr wohl weint,
Auch wenn du seine Tränen nicht siehst,
Weil jemand anderes sie trocknet?
Das alles willst du nicht wahrhaben. Es hat keine Bedeutung was ich sage.
Du hörst mir nicht zu. Hörst meinen Schrei nicht.
Deshalb lass mich nur eine Sache sagen, auch wenn du es nicht verstehst:
Mama, meine Flügel sind gebrochen. Ich muss hier raus.
Wo bisher Hoffnungslosigkeit herrschte, ist jetzt nichts mehr.
Ich kann nicht mehr. Vergib mir bitte.
Vergib mir, dass ich dich enttäuscht habe.
Dass ich versagt habe, dass ich nie so war, wie du es wolltest.
Aber Engel mit gebrochenen Flügeln fallen.
Sie verlieren ihre Kraft.
Und mit einem letzten, schmerzerfüllten Schrei stürzen sie hinab in die Hölle.
Es tut mir Leid.
Zuletzt geändert von Lionoire am Do. 22.03.2007, 17:40, insgesamt 1-mal geändert.