von Sorgenkind » Di. 15.11.2016, 09:31
Liebe loner,
ich danke dir sehr für deine Nachricht und dein Mitgefühl. Das mit dem Brief ist eine sehr schöne Idee. Ich habe sogar schon damit angefangen. Es ist gar nicht so leicht, die richtigen Worte zu finden. Ich habe mir nie viele Gedanken um den Tod gemacht. Natürlich habe ich mir gelegentlich vorgestellt, wie es wäre, nicht mehr zu leben und wie ich es machen würde... aber es war doch immer mehr theoretisch. Ernsthaft würde ich diesen Schritt nicht in Erwägung ziehen.
In dem Moment, wo ein Mensch entscheidet nicht mehr leben zu wollen, kann ihn wohl tatsächlich nichts mehr davon abbringen. Ich habe nun erfahren, dass es der 3. Versuch von ihm war. Nur glaube ich, dass man mit zwischenmenschlicher Zuneigung solche akuten Phasen verhindern kann. Ich denke, dass es nur "schwache" Momente von ihm waren, in denen er keinen anderen Ausweg sah, die auch wieder verflogen wären, wenn er Liebe oder wenigstens berufliche Anerkennung erfahren hätte. Wenn alles auf ganzer Linie schief läuft, begünstigt das wohl die lebensmüden Gedanken und lässt die Hemmschwelle sinken. Außerdem weiß ich genau, dass er sich niemals von einer Brücke gestürzt oder die Pulsadern aufgeschnitten hätte. Er hatte vorher noch Pläne geschmiedet, dass er vorübergehend bei einem Freund einzieht. Ich befürchte, dass es eine Kurzschlusshandlung war und er sehr spontan eine Überdosis seiner Antidepressiva eingenommen hat. Er lag noch 5 Tage auf der Intensivstation, wie ich nun erfahren habe. Ich habe es rekonstruiert. Genau an dem Tag, als er die Tabletten geschluckt haben muss, habe ich mich das erste Mal nach 14 Jahren selbst verletzt. Ich war da wie fremdgesteuert... wollte eigentlich nur einen Salat zubereiten doch mich überkam ein unerträglicher Schmerz, dem ich dann mit 4 Kratzern in den Arm etwas abwenden konnte. Das war an dem Montag, an dem er die Tabletten einnahm. Das war eine ganz merkwürdige Situation. Ich fühlte mich unfassbar schlecht, bis ich am Freitag zu Freunden ging und von meiner Not berichtet hatte. Dadurch ging es mir besser und er starb... wird wohl Zufall sein, aber trotzdem fragt man sich da, ob es sowas wie Seelenverwandtschaft geben könnte.
Weißt du, es tut mir sehr leid für dich, dass du ähnliche Bindungsprobleme hast. Dennoch ist es beruhigend, nicht die einzige zu sein. Letztendlich müssen wir uns klar machen, dass es die Krankheit ist und nicht wir... und rechtzeitig intervenieren. Das ist das, was ich aus dieser Sache unbedingt mitnehmen will. Das Leben ist viel zu kurz für sinnlose Streitigkeiten. Wenn man ein Problem mit jemanden hat, der einem wichtig ist, sollte man sich dem annehmen und es so gut es geht benennen, um Lösungen zu finden. Mein verstorbener Freund war ein kleiner Weltverbesserer. Das ganze Leid und Elend der Menschheit hatte Platz in seinem Herzen. Mir ist nun wichtig in seinem Sinne weiterzuleben, Gutes zu tun. Auch wenn ich keine Steine bewegen kann, es fängt im Kleinen an. Nächstenliebe.
Ich habe gemerkt: Das Wunder, auf das ich solange gewartet habe, bin ich selbst.
(Zitat einer schwedischen Schriftstellerin)