von flügellos » Di. 18.01.2005, 20:11
Engel flügellos
Sie sah ihn lange an. Er stand vor ihr in seinem Schmerz, seiner Verzweifelung. Eigentlich musste sie zurück ... „Geh nur!“ sprach er leise. „Ich bin nur ein einzelner Mensch.... Ich bin es nicht wert. Wenn du fliegst kannst du vielen Menschen helfen... Ich bin eben alleine, ich bleibe alleine.“ Sie sah ihm in die Augen und sah seinen Schmerz, spürte seine Hoffnungslosigkeit. Sie nahm ihn fest in den Arm und blieb. „Du musst doch gehen!“ weinte er. Sie schüttelte den Kopf. Sie hielt ihn fest und spürte wie seine Tränen ihre Flügel erreichten, sich tief hinein sogen.... Sie wurden immer schwerer und schwerer, zu schwer sie zu entfalten, zu schwer zu fliegen.... Sie blieb bei ihm und hielt ihn im Arm, bis ihre Kräfte schwanden.
Als sie aufwachte, war sie flügellos. Sie war nicht rechzeitig gegangnen, nun war sie ein Gefangener – gefangen auf der Erde, bei den Menschen – selber eine von ihnen. Auch nur ein Wesen gefangen vom Leid der Welt.
Er sah ihr lange in die Augen. „Du bist geblieben.“ „Ja.“
Lange Zeit war sie bei ihm, sie tröstete ihn und half ihm, wie nur Engel es können. Gab ihm Liebe und die Sicherheit zurück, jemandem vertrauen zu können, schenkte ihm das Lachen.
Und er begann wieder richtig zu leben, lernte erneut zu lieben, zu lachen und zu vertrauen. Und in ihrem Lachen sonnte er sich, sowie sie sich an dem lebensfrohen Funkeln in seinen Augen wärmte ... und plötzlich bemerkte sie, wie sich eine unheimliche Schwere auf seinen Schultern, die ihr nie bewusste gewesen war, löste... Sie sah sich an und sah ihre Flügel, von Tränen schwer, langsam von der Wärme seines Lachens trockneten und wieder voll erblühten.
Sie entfaltete sie und hob ab. Er sah sie an und lachte. Und beide erkannten das Engel niemals flügellos sein werden, solange sie einen Menschen haben, dem sie helfen können.... Der sie braucht...