von Lingenia » Mi. 27.12.2006, 01:52
Meine Entscheidung?
Es ist schon spät, die Flasche Rotwein fast leer.
Du sitzt mir gegenüber - bist heute vorbeigekommen,
weil es mir wieder mal mies geht und ich nicht mehr will.
Wir redeten über Dies und Jenes, Du erzählst mir,
was ein schöner Tag es war und wie schön doch alles sei.
Doch ich habe Dir jetzt gar nicht so genau zugehört,
weil ich mit meinen Gedanken schon wieder ganz woanders war.
"Das liegt doch alles nur an Dir! Es ist Deine Entscheidung!"
höre ich Dich sagen. "Soso, es liegt also alles an mir?!"
entgegne ich Dir - wieder der Standardspruch vieler,
wie ich ihn doch hasse! Alles also mein ganz eigenes Problem?!
"Ja, es ist Deine Wahl, ob Du im Licht oder Schatten läufst
und welchen Weg Du nimmst!" antwortest Du mir.
"Das glaubst Du also? Meinst Du wirklich, das dies alles
so einfach ist? frage ich Dich. "Natürlich!" bekomme ich
zu hören. "Ok, dann erzähl ich Dir mal meine Meinung dazu."
Du nickst und ich suche nach passenden Worten...
"Nein, so einfach ist das alles nicht. Das Leben ist viel
komplizierter. Ja, es sind meine Entscheidungen, welchen
Weg ich nehme. Ich gehe jetzt schon 30 Jahre meinen Weg,
bin oft gestolpert, liegengeblieben, wieder aufgestanden
und weitergelaufen. Manchmal weiß ich gar nicht, wieso und
für was überhaupt, aber egal. Wege gibt es viele, auch einige,
die ich gerne genommen hätte. Doch nicht alle Wege stehen
allen offen. Manche sind von Geburt an verschlossen, aber
die sind auch nicht so wichtig für mich." Du hörst mir
aufmerksam zu. "Dann gibt es Wege, die direkt auf den Berg
führen, aber sie sind so steil, daß man sie nicht schafft,
egal, auch wenn man sich noch so anstrengt. Die Seilbahn
hinauf bleibt einem aber verwehrt, die ist anderen vorbehalten.
Macht auch nix, es gibt auch noch den langen schmalen Pfad
außen herum auf den Berg hinauf. Doch oben angekommen,
hast du den Eindruck, das hätte ich mir sparen können,
bin dort gar nicht willkommen und so geht man wieder bergab.
An manchen Kreuzungen wäre ich gerne anders abgebogen,
doch oft waren diese Straßen dann gesperrt und ich mußte wieder
in die andere Richtung laufen. Vielleicht in die falsche,
aber das macht auch nichts, Umleitungen gibt es immer.
Manche davon waren sogar interessant, habe dadurch Dinge
gelernt, die ich, wenn ich anders abgebogen wäre, vielleicht
nie gesehen hätte. So ist das eben auf dem Weg des Lebens...
Manche Wege waren grausam, Menschen standen links und rechts
des Weges, mit Steinen, spitzen Nadeln und was weiß ich.
Ein wahrer Spießrutenlauf. Aber man erträgt viel, wenn man
an sein Ziel kommen will. Einige Wege liegen im Sonnenschein
und man möchte gar nicht weiterlaufen, einfach für immer
dort bleiben. Doch die Zeit - der Weg des Lebens geht
unaufhörlich weiter. Doch manchmal tut es nach dem Sonnenbad
auch wieder mal gut, im Schatten zu gehen. Bis zur nächsten
Kreuzung, dem nächsten Abzweig. Immer wieder Entscheidungen,
wo man hinlaufen will. Ja, es stimmt, es sind meine ganz
eigenen Entscheidungen - manche führten auch in eine Sackgasse
und ich mußte wieder zurück. Andere Wege wollte ich manchmal
nicht gehen, ich fand sie nicht passend oder ich hatte einen
ähnlichen aus vergangener Zeit in schlechter Erinnerung.
Auf einigen Kilometern hatte ich Begleitung, weite Strecken
ging ich aber allein. Manchmal peitsche mir Sturm und Regen
ins Gesicht und oftmals war es für längere Zeit sehr düster.
Vielleicht habe ich auch so manchen Abzweig übersehen,
die Orientierung verloren, während ich blind gewesen bin.
Doch die Hoffnung, das entfernte Ziel treiben einem voran,
aber all die Umleitungen, all die Mühen, all die Schmerzen
rauben einem stetig einen Teil der übriggebliebenen Kräfte,
und kein Brunnen ist weit und breit, um aufzutanken.
Irgendwann wird man müde, es wird kalt und der Winter naht,
die Reserven sind erschöpft und Schnee legt sich über's Land."
Du hörst mir aber schon gar nicht mehr zu, stehst auf, sagst
"Ich bin müde, fahr jetzt nach Hause" und gehst.
By darkmind76